Aktion «Kinder der Landstrasse» der Pro Juventute
Eine Geschichte geprägt von Verfolgung
Das Verhältnis der offiziellen Schweiz zu den Minderheiten der der Jenischen, Sinti und Roma war bis im 20. Jahrhundert von Ausschluss und Versuchen zur erzwungenen Integration gekennzeichnet.
Die fahrende Lebensweise entsprach nicht der bürgerlichen Norm und galt als unstet und darum verdächtig. Aber auch sesshaft lebende Familien blieben nicht verschont: die Zugehörigkeit zu einer Minderheit alleine reichte oft schon aus, um stigmatisiert und verfolgt zu werden.
Mit unvergleichlicher Härte und gezielter Hetze ging die Pro Juventute mit ihrer Aktion «Kinder der Landstrasse» ab 1926 gegen jenische Familien vor, vereinzelt waren auch Sinti betroffen. Die Kinder wurden von Pro Juventute ihren Familien gegen deren Willen entzogen. Sie wurden daraufhin in Heimen oder Anstalten interniert sowie in Fremdfamilien platziert, Kontakte mit der Herkunftsfamilie wurden systematisch unterbunden. Rund 600 Kinder wurden auf diese Weise, oftmals auch mit Hilfe der Behörden, weggenommen und in vielen Fällen dauerhaft von ihrer angestammten jenischen Kultur entfremdet. Am meisten Opfer des Programms der Pro Juventute stammten aus den Kantonen Graubünden, Tessin, St. Gallen und Schwyz.
Eine ähnliche Praxis verfolgten kommunale und kantonale Behörden und teilweise auch Kirchen, vor allem in der Zentral- und Ostschweiz sowie im Kanton Solothurn, so dass die Zahl fremdplatzierter Kinder aus jenischen Familien insgesamt weit höher ist. Schätzungen gehen von bis zu 2’000 Betroffenen aus. Dabei nahmen Organisationen wie das Seraphische Liebeswerk eine Vermittlerrolle zur Platzierung jenischer Kinder in Pflegefamilien, Kinderheimen und Erziehungsanstalten ein. Auch Jugendliche wurden in Arbeitsanstalten und psychiatrische Kliniken eingewiesen und damit von ihren Familien entfremdet und Misshandlungen ausgesetzt. Selbst Zwangssterilisationen wurden ausgeführt.
Erst im Zuge einer breiten öffentlichen Debatte zum Heimwesen und auf Druck der Medien – vorab des «Schweizerischen Beobachters» – wurde das Programm «Kinder der Landstrasse» 1973 eingestellt.
Proteste der Jenischen und Aktenzugang
Die Proteste der Jenischen führten zur Gründung von eigenen Organisationen wie der «Radgenossenschaft der Landstrasse» oder «Naschet-Jenische», die den Betroffenen Zugang zu ihren Akten und damit zu ihren Ursprungsfamilien verschaffen wollten und sich für die historische Aufarbeitung einsetzen.
Ab den 1980er Jahren begann der Bund, sich für die Wiedergutmachung des Unrechts und für die Anerkennung und den Schutz der Minderheiten einzusetzen. Das Wirken der Pro Juventute wurde daraufhin gestützt auf die zugänglich gemachten Akten der nach und nach erforscht. Auch die Aufarbeitung der Auswirkungen der bis 1981 praktizierten fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen, deren Opfer häufig auch Jenische, Sinti und Roma waren, wurde an die Hand genommen.
Etappen auf dem Weg der Aufarbeitung
─ Am 3. Juni 1986 entschuldigt sich Bundespräsident Alphons Egli vor den eidgenössischen Räten bei den Betroffenen für das im Rahmen der Aktion «Hilfswerk für die Kinder der Landstrasse» den Jenischen angetane Unrecht. Das Parlament beschliesst, eine umfassende Untersuchung über das «Hilfswerk» durchzuführen.
─ 1988 werden im Rahmen der Aufarbeitung der Aktion «Hilfswerk für die Kinder der Landstrasse» eine Akten- und eine Fondskommission eingesetzt mit dem Ziel, den Betroffenen die Einsicht in ihre Akten zu ermöglichen. Bis 1992 werden finanzielle Entschädigungen an die Opfer in der Höhe von insgesamt 11 Millionen Franken entrichtet, maximal 20'000 Franken pro Person.
─ 1995 gründet der Bund die Stiftung «Zukunft für Schweizer Fahrende». Die Stiftung ermöglicht die Zusammenarbeit unter den Behörden der verschiedenen staatlichen Ebenen und den Organisationen der Jenischen und Sinti. Mit ihrer Arbeit trägt sie zur Verbesserung der Lebensbedingungen der nomadisch lebenden Minderheiten und zur Bewahrung der kulturellen Identität der Jenischen und Sinti bei.
─ Im Rahmen des Nationalen Forschungsprogramms NFP 51 zum Thema Integration und Ausschluss werden von 2003 bis 2009 verschiedene Untersuchungen zur Geschichte der Jenischen, Sinti und Roma veröffentlicht.
─ Am 30. September 2016 verabschieden die eidgenössischen Räte das «Bundesgesetz über die Aufarbeitung der fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen vor 1981». Das Gesetz sieht eine finanzielle Entschädigung von 300 Millionen Franken für von Opfer von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen vor, maximal 25'000 Franken pro Person. Akten werden aufbewahrt, Betroffene erhalten Einsicht; der Bundesrat sorgt für eine umfassende wissenschaftliche Aufarbeitung der Zwangsmassnahmen; die Kantone richten Anlauf- und Beratungsstellen ein. Unter den Betroffenen befinden sich auch zahlreiche Jenische, Sinti und Roma.
─ Am 15. September 2016 wendet sich Bundesrat Alain Berset an einer «Feckerchilbi» in Bern an die versammelten Angehörigen der Minderheiten und betont die Wichtigkeit der Eigenbezeichnungen: «Ich werde mich dafür einsetzen, dass der Bund Sie künftig „Jenische" und „Sinti" nennt. Und dass künftig auf den allgemeinen Begriff "Fahrende" verzichtet wird […] mit Sprache schafft man Realität.» Dieser Moment wird von den Jenischen und Sinti als historisch wichtige Anerkennung gefeiert.
Die Aufarbeitung dieses belastenden Kapitels der neueren Geschichte und des Umgangs der Schweiz mit ihren Minderheiten dauert an.